Europas Industrie-Ausrüster sind stärker als ihr Ruf
München – Der europäische Industriegütersektor zeigt sich trotz trüber Konjunkturprognosen in einer strukturell guten Verfassung. Sowohl überdurchschnittlich starke Unternehmensbewertungen als auch selbstbewusste Stimmen aus den Führungsetagen sprechen dafür, dass Lieferkrisen, Inflation und geopolitische Risiken mit unternehmerischer Weitsicht beherrschbar bleiben. Als Topthemen und zugleich Wachstumstreiber für die Industrie gelten Digitalisierung, KI und Nachhaltigkeit. Für das neue Branchenbarometer „The State of the Industrial Goods Sector“ hat die Strategieberatung Oliver Wyman mehr als 200 börsennotierte Ausrüster umfassend beleuchtet und befragt.
Häufig bespöttelt als „Old Economy“, zeigt sich der Industriegütersektor Europas äußerst robust – und erstaunlich wachstumsstark. Die Börsenperformance der Unternehmen im Industriegüter-Index IGO Europe von Oliver Wyman stellt andere Branchen in den Schatten: Die Industrieausrüster legten zwischen 2013 und 2022 jedes Jahr um fünf Prozentpunkte stärker zu als die breite Masse von Firmen, die im MSCI Europe Preisindex vertreten sind. „Trotz Corona-Krise, Fachkräftemangel, Ukraine-Krieg und weiteren externen Schocks: Europas Industriegütersektor hat binnen zehn Jahren erheblich an Wert gewonnen und besitzt eine gute Zukunft“, sagt Wolfgang Krenz, Partner der Strategieberatung Oliver Wyman. Er ist der Initiator der Erstauflage eines umfassenden Branchenbarometers: „The State of the Industrial Goods Sector“ fühlt den Industriegüterherstellern des Kontinents künftig regelmäßig den Puls. 213 börsennotierte Unternehmen in Europa wurden untersucht, hinzu kam eine Online-Umfrage unter 200 Führungskräften des Sektors.
Aktuell trauen sich 56 Prozent der befragten Top-Manager mit ihrem Unternehmen ein jährliches Wachstumstempo von 3 bis 9 Prozent bis 2025 zu. Auch bei den EBIT-Raten halten 52 Prozent ein Plus von 2 bis 5 Prozent für realistisch. Nur neun Prozent der Befragten stellen sich auf einen leichten Umsatz- und Gewinnrückgang ein. „Das Maß der Zuversicht erscheint aus heutiger Sicht überraschend “, kommentiert Krenz. „Doch die Untersuchung zeigt, dass mit dem richtigen Geschäftsmodell und mit operativer Exzellenz tatsächlich mehr Chancen als Risiken für hiesige Unternehmen bestehen. Im Kern ist die Branche gesund, sie muss aber wandlungsbereit bleiben.“ Welche Resilienz den Sektor auszeichnet, zeigt ein Blick auf die Jahre 2018 bis 2022: Nach der Pandemie und trotz des Ukraine-Krieges waren die Umsätze um 17 Prozent gestiegen und auch die Profitabilität lag um einen Prozentpunkt über dem Ausgangsniveau.
Digitalthemen auf der To-do-Liste
Die Analyse zeigt aber auch, dass nur bestimmte Subsektoren boomen – vor allem im Bereich Industrie-Software und Halbleiterherstellung. Der relative Wertanteil der Unternehmen mit diesem Fokus wuchs binnen zehn Jahren von 10 auf 27 Prozent – auf Kosten anderer Subsektoren. „Im Wettkampf um Marktanteile gerade gegenüber den erstarkenden US-amerikanischen Konkurrenten sollten die Europäer vermehrt digitale Lösungen einsetzen und das Potenzial von künstlicher Intelligenz erschließen“, rät Krenz. Die noch nicht ausgeschöpften Potenziale von „klassischen“ KI-Anwendungen seien dabei höher als diejenigen aus generativer KI. „Bisher kratzen Industrieunternehmen da an der Oberfläche“, sagt Krenz.
Als eine Branche, die mit dem Export von Gütern historisch gewachsen ist, liegt das Erobern neuer Ländermärkte in der DNA vieler Industrieausrüster. Die starke Ausrichtung auf China, über Jahre ein wichtiger Wachstumsfaktor, entpuppt sich nun mit zunehmender geopolitischer Lagerbildung als Risiko. In der Befragung werten die Führungskräfte politische Unsicherheiten wie den Taiwan-Konflikt und Handelsbarrieren als drittwichtigste Sorge, nur übertroffen von Lieferengpässen und massiven Kostensteigerungen. Die Analyse untermauert das Risiko einer zu großen Abhängigkeit von China: „Die Exposition der europäischen Industriegüterhersteller in Asien und China ist seit 2017 nochmals gewachsen“, sagt Krenz. Nur noch 37 Prozent des Geschäfts wickeln Europäer auf dem eigenen Kontinent ab. Zum Vergleich: US-Konkurrenten verkaufen 58 Prozent ihrer Maschinen und Anlagen auf dem Heimatmarkt, chinesische Firmen sogar 80 Prozent. „Wegen der hohen Abhängigkeit von Produktion und Beschaffung in China ist es wichtig, dass sich gerade europäische Unternehmen auf die verschiedenen Entkopplungsszenarien vorbereiten“, mahnt Krenz.
Indien und ASEAN im Blick
Als einen naheliegenden Weg, die Abhängigkeit von China zu verringern, nennt die Analyse eine Stärkung anderer Zielmärkte. Insbesondere Indien, die ASEAN-Staaten und auch die USA versprechen gutes Ausbaupotenzial, auch dank staatlicher Infrastrukturprogramme. Gefragt nach einer Alternative in Asien zu China etwa für neue Ansiedlungen, verweisen 60 Prozent der Befragten auf Indien, das mit deutlichem Abstand den ersten Platz einnimmt. Zudem stehen Vietnam, Indonesien, Südkorea und Japan hoch im Kurs. „Die europäischen Unternehmen sind gut beraten, ihre globale Ausrichtung beizubehalten. Dies muss nicht unbedingt eine Maximierung der lokalen Produktion vor Ort bedeuten. Das traditionelle Exportmodell ist nicht tot“, sagt Oliver Wyman-Branchenkenner Krenz. Auch wenn manche industrielle Wertschöpfungskette in Europa wieder etabliert wird wie in der Halbleiterfertigung, bleibt Krenz bei der Feststellung: „Die Post geht ehrlich gesagt für Industriegüter nicht in Europa ab.“
Eine Ausnahme: Nachhaltigkeit. „Hier sorgt die EU auch mit dem Green Deal und dem geförderten Ausbau der Erneuerbaren für gute Investitionschancen.“ Die Studie belegt, welche Wachstumsdynamik mit einer Ausrichtung auf Emissionsvermeidung zu erzielen ist. Vor allem gelten Industrieausrüster mit ihren Produkten als sogenannte Enabler. Sie können mit Effizienzlösungen ihren Kunden in den energieintensiven Branchen wie Energieerzeugung, Chemie, Stahl, Papierherstellung oder Bauwirtschaft zu Einsparungen verhelfen und so die CO2-Bilanz entlasten. „Nach unserer Einschätzung kann so der Industriegütersektor indirekt mehr als 70 Prozent der Emissionen beeinflussen“, sagt Krenz. „Ob Batterieherstellung, neue Recycling-Lösungen oder Wasserstoffinfrastruktur: An den Schalthebeln sitzt der Industriegütersektor – und die Nachfrage wächst durch Kundenwunsch und regulatorischen Druck enorm.“
Nachhaltigkeit als Werttreiber
Die Chance ist im Management erkannt worden: 58 Prozent der Befragten sehen hohes oder sehr hohes Potenzial für ihr Unternehmen bei grünen Produkten oder Dekarbonisierungslösungen. Wie sehr die Investoren und Kapitalanleger den Einsatz für mehr Nachhaltigkeit wertschätzen, zeigt die Studie ebenfalls: Nachhaltigkeitsführer sind wertvoller. Konkret entwickelt sich bei Industriegüterherstellern, die beim renommieren Carbon Disclosure Project (CDP) am besten gerankt sind, die Börsenbewertung im Schnitt um 19 Prozent besser als beim breiten Markt. „Der Bewertungsvorteil ist evident. Es gibt keinen Grund, beim Thema Nachhaltigkeit zu zögern“, sagt Krenz. „Der Industriegütersektor ist vielen Dynamiken ausgesetzt. Für den weiteren Erfolg gilt es die richtige Balance zu finden, um strukturellen Veränderungen mit einer konsequenten Transformation zu begegnen und gleichzeitig Flexibilität und Agilität beizubehalten, um zügig auf unvorhersehbare Krisen reagieren zu können.“
Über Oliver Wyman
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